14.06.2021
Zunächst gilt es, die Kapazitäten hochzufahren und den hoffentlich andauernden Buchungsaufschwung zu meistern. Aber abgesehen davon verschärft sich bei vielen Unternehmen die Liquiditäts- und Finanzierungsproblematik. Wer Kredite aufgenommen hat, wird hohe Rückzahlungen bedienen müssen. Zudem hat die Pandemie das Verhalten der Kunden verändert. Diese dürften auch nach Corona nicht nur einen höheren Service-Anspruch haben, sondern auch mehr digitale Angebote erwarten.
Tatsächlich sollte die Digitalisierung nicht einfach nur als Unterstützer für Prozesse betrachtet werden, sondern Dreh- und Angelpunkt sein. Dabei geht es um mehr als Effizienz und Kostenoptimierung im Unternehmen. Und die Digitalisierung spielt – wie gesagt – eine entscheidende Rolle in der Kundenbeziehung, sei es beim Sammeln von Kundendaten oder bei den Kontaktpunkten. Wie wir in unseren aktuellen Projekten allerdings häufig sehen, erschweren oft noch veraltete Systeme und Datenformate die Umsetzung.
Ihre Geschäftsmodelle sollten stärker aus Sicht des Kunden gedacht werden. Das bedeutet nicht nur einfachere Buchungsprozesse, sondern auch flexible, auf die Kundenwünsche zugeschnittene Produkte. Grundsätzlich sollten sich Unternehmen über ihre Strategie für die nächsten fünf Jahre noch klarer werden. Bei Bedarf müssen sie sich Kapitalgeber an Bord holen, und die wollen eine Wachstumsstory hören.
Viele Unternehmen gelten für Investoren als attraktiv. Mit ein Grund ist tatsächlich auch der Nachholbedarf im Bereich der Digitalisierung. Aus Investorensicht ergibt sich damit genügend Potenzial zur Verbesserung der Performance und der Erträge. Deshalb war die Zeit lange nicht so günstig wie jetzt, um in die Touristik einzusteigen. Abgesehen von dem digitalen Nachholbedarf treffen Interessenten meist auf solide Geschäftsmodelle, die eine Krise überwunden haben. Mehr noch: Aufgrund der hohen Nachfrage und des Nachholbedarfs für Urlaubsreisen ist kurz- bis mittelfristig mit einem starken Wachstum zu rechnen. Und auch langfristig wird die Touristik – unter Berücksichtigung von Inbound wie Outbound – ein Wachstumsmarkt sein.
Da würde ich vier Kategorien sehen. Einmal sind es Spezialveranstalter, die einen klaren Produktfokus sowie eine spezifische Zielgruppe und somit eine hohe Identifikation ihrer Kunden mit der Marke aufweisen. Daneben sind Unternehmen mit einem großen Marktvolumen, aber einer aktuell schwachen Marktkapitalisierung interessant. Sie bieten nach einer Restrukturierung und Optimierung des Geschäftsmodells gute Chancen, die Effizienz zu steigern. Aber auch innovative Start-ups, die sich aus einem technikgetriebenen Ansatz heraus den Zugang zum Kunden sichern, bergen Potenziale. Und dann natürlich Tech-Unternehmen, die die Digitalisierung der Branche maßgeblich mitgestalten.
In der Tat sind die Umsätze im Reisevertrieb und bei den Veranstaltern um etwa 80 bis 90 Prozent verglichen zu 2019 eingebrochen. Die anfänglich befürchtete breite Pleitewelle ist aber bis dato ausgeblieben, sicher auch wegen der staatlichen Hilfen. Langfristig werden diese Gelder aber nur denen helfen, die die Zeit genutzt haben, ihre Prozesse und Strukturen effizienter, schlanker und kundenzentrierter aufzustellen. Da ist es wichtig, beim aktuellen Hochfahren nicht wieder in alte Strukturen zu verfallen, sondern die Transformation weiter aktiv voranzutreiben.
Wir gehen davon aus, dass sich der Umsatz im Leisure-Bereich zwischen 10 und 15 Prozent Richtung Online verlagert. Das heißt aber nicht, dass sich die Zahl der Reisebüros entsprechend verringert. Zwar ist der Online-Vertrieb bislang stärker gewachsen als der stationäre Vertrieb. Durch Corona sind jedoch Service-Leistungen wichtiger geworden. Dadurch könnten Reisebüros wieder stärker am Wachstum partizipieren.
Künftig wird es weniger um die Frage gehen, ob der Kunde online-affin ist oder lieber ins Reisebüro geht. Die Frage ist eher, wo ihm die größten Mehrwerte angeboten werden und wie individuell auf seine Bedürfnisse eingegangen wird – und zwar kanalübergreifend.
Dazu müssen nicht nur Service-Modell und Präsenz den Ansprüchen der Kunden gerecht werden, beides muss auch kontinuierlich hinterfragt und neu ausgerichtet werden. Das heißt auch, den Online-Vertrieb als einen Teil des eigenen Geschäftsmodells zu verstehen und die verschiedenen Kanäle – also stationär, online und mobil – im Sinne eines nahtlosen Omnichannel-Ansatzes zu bespielen.
Nein! Der Kunde steht auch künftig vor einer breiten Auswahl an Marken, Produkten und anderen Reiseleistungen. Da bedarf es trotz aller technischer Entwicklung immer wieder eines Lotsen. Ob der ein digitaler Vermittler oder ein stationäres Reisebüro ist, hängt davon ab, inwieweit für den Kunden relevante Mehrwerte erbracht werden.
Möglicherweise werden die Umsätze künftig stärker konzentriert. Die Schließung von 50 TUI-Filialen ist ein Indiz dafür, dass sich kleinere Einheiten für Ketten nicht mehr rentieren. Die Umsätze werden entsprechend auf andere Einheiten verlagert. Wir gehen davon aus, dass neue Konzepte entstehen.
In den vergangenen Monaten sind die Schranken zwischen Online, Offline und mobilen Konzepten gefallen. Aber die Organisationen haben sich zentralseitig noch nicht entsprechend aufgestellt. Da gibt es immer noch die Abteilung für Online und die für den stationären Vertrieb und nur vereinzelt kollaborative Organisationen.
Neben der Entwicklung solcher Strukturen bei unseren Kunden arbeiten wir derzeit auch an Reisevertriebsformaten, die flexibler und integrativer sind und so die unterschiedlichen Vertriebskanäle frei von Prozessbrüchen verknüpfen.
Das Interview erschien am 10.06.2021 im e-Paper und der Print Ausgabe 11/2021 der Branchenfachzeitschrift fvw.